Der Luftfahrtzulieferer PFW Aerospace, eine Tochter des französischen Unternehmens Hutchinson, prüft den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Sicherung anspruchsvoller Qualitätsstandards in der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung (ZfP). Hierbei wird die Optimierung der Wirtschaftlichkeit in Qualitäts-Bewertungsaufgaben angestrebt. Im Zuge eines Pilotprogramms evaluiert VisiConsult, der Weltmarktführer für kundenspezifische Röntgensysteme, ob die Auswertung der Bilddaten mittels KI automatisierbar ist. Den Kern bildet die Qualifizierung von Künstlicher Intelligenz entsprechend den anspruchsvollen Luftfahrt Prüfstandards. Ein Interview mit PFWs Head of R&D Markus Gutensohn, geführt durch Lennart Schulenburg, Geschäftsführer bei VisiConsult, gibt nähere Einblicke.
Lennart Schulenburg: Wie sehen Sie den aktuellen Stand der KI im Alltag und in der Arbeit im Qualitätsbereich?
Markus Gutensohn: Seitens PFW kennen wir bis heute innerhalb unseres Inspektionsalltages keine wirkliche KI-Anwendung. Es sind viele gewachsene Strukturen in der Luftfahrtindustrie vorhanden, die teilweise Jahrzehnte alt sind. Diese Qualitätssicherungssysteme wurden etabliert, um eine sichere Luftfahrt zu gewährleisten. Auch wenn die KI-Technologie zeitnah zur Verfügung steht, sind Akzeptanz und Qualifizierung große Herausforderungen vor denen wir und die gesamte Luftfahrtindustrie stehen.
Lennart Schulenburg: Die Qualifizierung, Normung und Standardisierung von KI sehen Sie als die große Herausforderung?
Markus Gutensohn: Absolut. Wenn man sich vorstellt, dass die Sicherheit oder das Verständnis von Sicherheit plötzlich in die Hand eines Algorithmus gelegt wird, so ist das ein großer Schritt. Wir setzen heute besonders ausgebildetes und geschultes Personal dafür ein und derart sicherheitsrelevante Aufgaben sollen irgendwann alle an einen Algorithmus übergeben werden? Es ist ein mögliches Szenario, aber aktuell ein Riesenschritt und wer noch nicht bereit dazu ist, sollte sich vorbereiten.
Wir alle werden lernen damit umzugehen. Und das Vertrauen wird wachsen, aber über die nächste Zeit muss sich dies erst einmal aufbauen. Mitarbeiter müssen mitgenommen werden, alte Prozesse müssen verändert werden. Alles sollte bedacht werden. Historisch gewachsene Strukturen haben sich in vielerlei Hinsicht bewährt und es gibt neue Wege, die sich wahrscheinlich als besser erweisen. Das muss in den Köpfen erst einmal ankommen.
„Auch wenn die KI-Technologie zeitnah zur Verfügung steht, sind Akzeptanz und Qualifizierung große Herausforderungen…“
Lennart Schulenburg: Warum will PFW KI in der Qualitätssicherung nutzen und welchen Vorteil oder Mehrwert versprechen Sie sich davon?
Markus Gutensohn: PFW hat heute einen sehr großen Prüfaufwand. Und es zeigt sich, dass unser Personal in der Qualitätssicherung mit den Daten aus einem zunehmend digitalisierten Umfeld etwas anfangen kann. Wir versprechen uns einen signifikanten Mehrwert davon, wenn Entscheidungen datengetrieben durch einen Algorithmus getroffen werden können. Daher hat sich PFW vor einiger Zeit auch auf den Weg gemacht, im Rahmen eines geförderten Programms zu schauen, ob digitales automatisiertes Röntgen als unterstützende Auswertung unser Personal in anstrengenden Aufgabenbereichen entlasten kann. Denn tagtäglich sechs bis acht Stunden auf einem Monitor kleine, feine Poren zu finden, mag anspruchsvoll sein, aber zweifelsohne auch eine Last.
Lennart Schulenburg: Für Sie ist KI also eher ein Assistenzsystem, was den Benutzer dabei unterstützt schnellere und bessere Aussagen zu treffen?
Markus Gutensohn: Vorerst ja, denn wir müssen lernen mit diesen Systemen umzugehen – sehen und verstehen, wie zuverlässig so etwas arbeitet. Wahrscheinlich wird es eine lange Phase geben, in der KI als Assistenzsystem genutzt wird. Wichtige, sicherheitskritische Fragestellungen müssen zunächst noch durch geschulte Prüfer beantwortet werden. Natürlich ist für den ein oder anderen das Ziel, ein autonomes KI-System zu haben, das solche Entscheidungen zuverlässig selbst fällt und das Personal bei den Entscheidungen voll entlasten kann. Bis dahin gilt es vorerst die Performanz der Algorithmen zu demonstrieren.
„Wichtige, sicherheitskritische Fragestellungen müssen zunächst noch durch geschulte Prüfer beantwortet werden.“
Lennart Schulenburg: Welche Erfahrungen hat PFW bezüglich der Automatisierung der Röntgeninspektion?
Markus Gutensohn: PFW hat eine große Anzahl von Röntgenanlagen im Betrieb, weil viele hergestellte Bauteile, z.B. dort wo wir Schweißtechnik zu Anwendung bringen, einer Röntgenprüfung unterzogen werden müssen. Mit der Investition in neue Anlagen oder Programme zur Anpassung an die gestiegenen Fertigungsraten hat PFW in den letzten Jahren vermehrt teil- oder vollautomatisierte Röntgenprüftechnik von VisiConsult beschafft. Weiterhin nutzen wir auch klassische, analoge Röntgenprüftechnik mit Film. Denn es gibt bestimmte Anforderungen, z.B. wird für eine Einwandaufnahme eines Rohres ein Film zusammengerollt und in das Rohr eingeschoben, das geht mit einem Detektor nicht. Dafür ist die Filmtechnik besonders vorteilhaft. Aber wenn eine Applikation digital durchführbar ist, dann kommt die analoge Variante vergleichsweise schnell an ihre Grenzen.
Lennart Schulenburg: Welche Priorität hat Automatisierung im Hinblick auf Robotik und KI bei PFW?
Markus Gutensohn: Das ist ein wachsendes und zunehmend interessantes Thema, denn die Produkte, die PFW fertigt, sind Manufakturteile. Es geht um geringe Stückzahlen, hohe Variabilität und einen langen Produktlebenszyklus. Daraus haben sich unsere Strukturen ergeben. Doch zukünftig erwarten wir weiter ansteigende Stückzahlen, so dass mittlerweile intensiv geprüft wird, wo und in welchem Umfang Automatisierung oder Robotik wirtschaftlich sinnvoll und technologisch möglich ist. PFW bringt Robotik in der Fertigung vermehrt zur Anwendung, um z.B. wettbewerbsfähig zu bleiben. Und auch in der Prüfung von Bauteilen wird Robotik immer relevanter. Hier setzen wir auf die Systeme unseres Röntgenpartners VisiConsult.
„Mit der Investition in neue Anlagen oder Programme zur Anpassung an die gestiegenen Fertigungsraten hat PFW in den letzten Jahren vermehrt teil- oder vollautomatisierte Röntgenprüftechnik von VisiConsult beschafft.“
Lennart Schulenburg: Welche Verbesserungen erwartet PFW mit Hinblick auf die Qualität der Werkstoffprüfung durch Automatisierung und KI?
Markus Gutensohn: Wir haben heute bereits ein sehr hohes Niveau in der Qualitätssicherung, welches uns ermöglicht, sehr zuverlässig höchste Qualität auszuliefern. Dies noch weiter zu verbessern ist aus meiner Sicht eine große Herausforderung. Wenn überhaupt, kann die Nachvollziehbarkeit und Objektivität der Entscheidungen durch eine KI verbessert werden.
Lennart Schulenburg: Sieht man sich Unfallstatistiken von selbstfahrenden Autos an, dann verursachen selbstfahrende Autos um einen Faktor hunderttausend weniger Unfälle als ein menschlicher Fahrer.
Markus Gutensohn: Trotz der schönen Statistik: Ein einziger Unfall in der Luft- und Raumfahrt ist ein Unfall zu viel. Wir kennen die Konsequenzen bei menschlichem Versagen. Aber was ist, wenn eine KI den Unfall verursacht?
Lennart Schulenburg: Dafür müssen die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Aber auch die Normung und Qualifizierung sind wichtige Aspekte. Daher arbeitet VisiConsult in der Normung intensiv mit, so dass sich u.a. durch Normen diese KI-Prüfprozesse kontrolliert weiterentwickeln.
Wir arbeiten eng mit Research-Gruppen in der Luft- und Raumfahrt zum Thema KI zusammen. Wie nehmen Sie die Akzeptanz ihrer Kunden wahr?
Markus Gutensohn: PFW muss sich in die Position des Kunden in der Luft- und Raumfahrt versetzen: Wenn heute der Kunde Bauteile geliefert bekommt, mit denen es in der Vergangenheit keine Qualitätsprobleme gab, dann ist es ein schwieriger und langwieriger Prozess, sich von den etablierten Standards zu lösen, wenn auch schrittweise. Das Vertrauen in einen Algorithmus o.ä. zu setzen, wird kein Selbstläufer, selbst unter dem Aspekt der Zusammenarbeit von menschlichem Prüfer und KI, wo z.B. KI alles vorsortiert. Es könnte Skepsis geben, ob der Prüfer für die finale Prüfung noch sensibel genug ist. Der Faktor Mensch ist schlichtweg enorm wichtig.
Andererseits habe ich eingangs bereits erwähnt: Man merkt jetzt durchaus, dass es viele Prozesse gibt, die einem Daten liefern. Und auch unsere Kunden werden sich über die Möglichkeiten des Data Mining klar werden, um selbst einen Nutzen daraus zu ziehen. Es ist in aller Munde und ich glaube, jeder wird für sich lernen, sehen und verstehen, wo tatsächlich der eigene Nutzen ist. Es machen sich aktuell viele auf den Weg, das herauszufinden, um für sich Daten besser nutzbar zu machen. Der Prozess kommt jetzt beschleunigter voran.
„Und auch unsere Kunden werden sich über die Möglichkeiten des Data Mining klar werden, um selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.“
Lennart Schulenburg: Sie haben gerade Data Mining angemerkt – Prozessverbesserungen basierend auf Daten. Ziehen Sie bereits aus Ihren geprüften Daten Rückschlüsse auf die Schweißqualität oder die Veränderung der Schweißparameter? Sehen Sie Potential von KI und einer engen Verzahnung des Prozesses?
Markus Gutensohn: Wir haben uns kürzlich intensiv mit diesem Thema beschäftigt und werden es im Rahmen eines Projektes und innerhalb eines Konsortiums ab nächstem Jahr noch intensiver betrachten. Das Ziel ist die Gegenüberstellung von Prozessdaten und Prüfergebnissen, um Zusammenhänge aufzuzeigen, die sonst nicht sichtbar sind und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Am Ende geht es selbstverständlich um die Reduktion des Prüfaufwandes. Wir machen uns jetzt erst richtig auf den Weg, weil wir bisher in der Qualitätssicherung keine Ansätze hatten, um KI zu nutzen. Das Thema digitaler Zwilling wäre dann ein Einzelprozess davon. Aber das große Ziel ist natürlich die gesamte Prozesskette vollständig abzubilden.
Lennart Schulenburg: Ab wann erwarten sie einen Durchbruch der KI-Nutzung in deutschen Qualitätsabteilung der Luft- und Raumfahrtindustrie?
Markus Gutensohn: PFW ist ein innovativer Zulieferer der Luftfahrtindustrie und wenn ich mir überlege, dass auch wir noch einen langen Weg vor uns haben bis KI in der Qualitätssicherung tatsächlich vollständig Einzug hält, dann wird es in der Branche wohl noch etwas dauern. Aber wir machen jetzt einen ersten, aber ganz entscheidenden Schritt mit VisiConsult. Es ist ein repräsentatives Beispiel, das an einer Stelle durchgeführt wird, wo man wirklich sagen kann, dass viel zu holen ist. Denn es ist ein sehr aufwändiger Bereich. Wenn wir es schaffen, dass wir hier eine Lösung entwickeln, die die Effizienz relevant steigert, dann geht das sicherlich auch für andere Bereiche, die geprüft werden. Ich gehe davon aus, dass das ein Prozess ist, der sich über einige Jahre hinweg ziehen wird.
„Wenn wir es schaffen, dass wir hier eine Lösung entwickeln, die die Effizienz relevant steigert, dann geht das sicherlich auch für andere Bereiche, die geprüft werden.“
Lennart Schulenburg: Seit wann arbeiten Sie mit VisiConsult zusammen und wie sind bis jetzt Ihre Erfahrungen?
Markus Gutensohn: Mit VisiConsult haben wir vor zehn Jahren angefangen auf digitales Röntgen umzusteigen. Das ging bei unserem Kunden Airbus erfolgreich durch die Zulassung. Mit dieser Anlage haben wir nicht nur den ersten Schritt hin in die digitale Welt betreten, sondern erstmals auch die komplette Prüfung über digitale Prüfprogramme automatisiert. Über die letzten Jahre hat sich die Zusammenarbeit intensiviert und es wurde eine hoch-innovative Roboterlösung von VisiConsult eingeführt. Jetzt folgt die Konsequenz daraus mit den Daten einen Schritt weiterzugehen. Unterm Strich ist es eine erfolgreiche und konstruktive Zusammenarbeit, so dass immer wieder gemeinsam in die Zukunft geplant werden kann. Ebenfalls positiv ist VisiConsults Selbstverständlichkeit, die Kundenanforderungen und -wünsche während der Entwicklungsphase immer wieder gut aufzunehmen und umzusetzen. Es ist ein wichtiger Punkt für uns, dass VisiConsult nicht nur Standardsysteme beherrscht, sondern dass Entwicklungen bedarfsorientiert vorangetrieben werden. Ja, das funktioniert sehr gut. Danke dafür.
Lennart Schulenburg: Warum wurde VisiConsult als Partner zur Entwicklung einer KI-Lösung ausgewählt?
Markus Gutensohn: Aufgrund der gewachsenen Zusammenarbeit und des Vertrauens in VisiConsult. Aus dem Ansatz heraus, dass wir gemeinsam eine automatisierte Röntgenprüftechnik erfolgreich entwickelt haben und wir jetzt mit den digitalen Daten und deren Auswertung gerne gemeinsam weiterarbeiten. Aus meiner Sicht ist es ein logischer Schritt, mit VisiConsult diese nächste Evolutionsstufe zu verfolgen.
Lennart Schulenburg: Was würden Sie uns raten, was wir fokussieren und nicht unterschätzen sollten?
Markus Gutensohn: Sobald eine erste ordentliche KI-Version steht, muss es einem ausgewählten Kundenkreis vorgestellt werden, damit der Kundenkreis vermehrt Berührung mit dem Thema erhalten und lernen kann, warum es für die eigene Zukunft relevant ist. Aber noch wichtiger ist das Feedback: Solch eine Runde bringt viele neue Erkenntnisse, die der nächsten KI-Version einen immensen Entwicklungsschub geben wird.
Lennart Schulenburg: Wie ist die Akzeptanz Ihres Teams gegenüber KI?
Markus Gutensohn: Es scheint jedem in diesem Bereich klar zu sein, dass wir uns so aufstellen müssen. Die zukünftigen, steigenden Produktionsraten müssen wir irgendwie meistern und um dem zu entsprechen, ist das Team überzeugt, von entsprechender Unterstützungs-Software zu profitieren. Und es ist auch kein Geheimnis, dass es die Qualitätssicherung schwer hat, neue Kollegen zu finden, wenn es darauf ankommt. Es gilt also, jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
„Aus meiner Sicht ist es ein logischer Schritt, mit VisiConsult diese nächste Evolutionsstufe zu verfolgen.“